Gedenken zum 79. Jahrestag der Befreiung

Ein deutscher Tod

Montag
15.04.2024, 17:15 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Vor 79 Jahren machten US-Amerikanische Truppen dem Schrecken von Dora endgültig ein Ende. Heute gedachte man der Befreiung und blickte dabei auch auf den Zustand unserer Erinnerungskultur und den Rufen nach einem „Schlussstrich“…

Gedenkveranstaltung zum 79. Tag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora (Foto: agl) Gedenkveranstaltung zum 79. Tag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora (Foto: agl)


In kaum mehr als anderthalb Jahren wurden zwischen August 1943 und 1945 rund 60.000 Menschen aus 48 Nationen in ein Lager bei Nordhausen deportiert. Sie wurden systematisch entrechtet und entmenschlicht, etwa 20.000 von ihnen schließlich ermordet.
Man muss sich diese Zahl vor Augen führen, 20.000 Menschenleben. Wenn es die Stadt in Sichtweite des ehemaligen KZ noch auf 40.000 Einwohner bringt, dann wäre das jeder zweite Mensch, der einem auf der Straße begegnet. Jeder zweite eine Leiche zu Asche verbrannt im Ofen des Krematoriums oder auf dem Todesmarsch am Wegesrand verscharrt.

Das dunkelste Kapitel unserer Geschichte wurde im Blut von Millionen geschrieben, in Sichtweite und bei vollem Bewusstsein des deutschen Volkes. 79 Jahre danach werden die Stimmen immer lauter, die einen „Schlussstrich“ fordern, vom „Fliegenschiss“ der 12 Nazi-Jahre reden und eine „180 Grad Wende“ in der Erinnerungspolitik fordern, kritisiert Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow in seinem Grußwort anlässlich des 79. Jahrestages der Befreiung des KZ Dora. Lauter, immer lauter seien diese Stimmen in den letzten Jahren geworden und auch in Nordhausen habe man sie vor wenigen Wochen wieder vernehmen können.

Nur zwei Überlebende der "Hölle von Dora" konnte man in diesem Jahr zum Gedenken in Nordhausen begrüßen, zum 80. Jahrestag im kommenden Jahr hofft man, das es noch einmal mehr werden (Foto: agl) Nur zwei Überlebende der "Hölle von Dora" konnte man in diesem Jahr zum Gedenken in Nordhausen begrüßen, zum 80. Jahrestag im kommenden Jahr hofft man, das es noch einmal mehr werden (Foto: agl)


Die Verbrechen der Nazis stehen dem erstarken rechtsextremer Kräfte immer noch im Weg, wird der Philosoph Nikolas Lelle später in seinen Ausführungen zum Gedenken in Dora ausführen. Kein Wunder, das die geistigen Nachkommen lieber wegsehen würden. Lelle spricht von der Idee der „Arbeit“, dem „fleißigen Deutschen“ und den „faulen Anderen“, von der Art wie die Nationalsozialisten diese tiefsitzende deutsche Dichtomie für ihre Propaganda nutzten, über Arbeit bis zur Vernichtung für die Gefangenen von Dora und die Arbeit der Vernichtung durch die Lageraufseher und Mitarbeiter.

Bewerkstelligt wurde letztere mit deutscher Gründlichkeit und ingenieurtechnischen Meisterleistungen, führt Bodo Ramelow im Vorfeld aus. Die Brennöfen für die Krematorien kommen häufig aus Erfurt, von „Topf und Söhne“. Primärenergiebedarf und die maximale Auslastung mit Leichen wurden penibel ermittelt und aufgeführt, das Verfahren patentiert, die verbrannten Opfer ordentlich und nachvollziehbar abgerechnet. Ein sehr „deutscher Tod“, der da organisiert wurde, sagt Ramelow.

Gedenkveranstaltung zum 79. Tag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora (Foto: agl) Gedenkveranstaltung zum 79. Tag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora (Foto: agl)


Es wäre sicher leichter, Gras über die Sache wachsen zu lassen, leichter über Goethe und Schiller zu reden, aber davon verschwindet der Ettersberg über Weimar nicht. Nein, nachfragen müsse man auch heute, aus den Augen der Opfer auf die Täter schauen, auch wenn es eben nicht leicht sei. Es reiche nicht, bei „der Trauer stehen zu bleiben“, meint auch Gedenkstättenleiter Andreas Froese. Das Wissen um die Zusammenhänge ermögliche erst das kritische Geschichtsbewusstsein. Wie war es möglich? Wie konnte es funktionieren, wer verantwortete den Massenmord? Wer profitierte?

Fragen, die man stellen muss, wenn man versuchen will zu verstehen. Wenn man denn will. Wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin habe die Erinnerungskultur Risse bekommen, summiert Philosoph Lelle. Wenn wir uns nicht erinnern wollen, dann fällt es leichter wieder einzuteilen in edel und gut und verschlagen und böse, in nützlich und faul, in das Volk und die Anderen. Doch noch stehe man auf dem Boden des Grundgesetzes, sagt Ramelow, da heißt es im ersten Artikel „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und Menschen sind wir alle. Noch jedenfalls.
Angelo Glashagel