OFFENER BRIEF des Theaterintendanten Daniel Klajner

„Unterlassene Hilfeleistung“ an unserer Gesellschaft

Dienstag
19.09.2023, 12:54 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
In den Chor der Mahner, doch an der in Nordhausen anstehenden Stichwahl um die Rolle des Oberbürgermeisters teilzunehmen, stimmt nun auch der Intendant des hiesigen Musentempels ein. Lesen Sie hier seinen offenen Brief...

Theaterintendant Daniel Klajner ruft zur Wahl auf (Foto: TNLOS) Theaterintendant Daniel Klajner ruft zur Wahl auf (Foto: TNLOS)

"Die Welt scheint nicht mehr zu kitten zu sein. Überall tauchen vermeintlich schwarze, sich auftürmende Wolken auf, die wie neueste Wetterphänomene über einem stehen bleiben und sich in ihrer ganzen zerstörerischen Kraft entladen. Dass unsere Zeit größte Herausforderungen mit sich bringt, ist – glaube ich – allgemeiner Konsens und unbestritten. Die einen Menschen betonen das eine Bündel an dramatischen Verwerfungen, die andern lenken den Blick auf andere, komplementäre Probleme. Dabei ist bemerkenswert, dass fast alle, die nicht aus Unwissenheit, Faulheit, Fahrlässigkeit oder Bösartigkeit lügen, auf ihre Art und Weise recht haben.

An dieser Stelle des Diskurses könnte man sich eventuell noch darauf verständigen, dass alle aufgelisteten Probleme, die zwar unterschiedlich gewichtet und bewertet werden, als solche gegenseitig anerkannt werden, wie z.B. der demografische Wandel, die Unterfinanzierung des Renten- und der Krankenkassensystems, die weltweiten Fluchtbewegungen und Migrationsströme mit ihren lebensverändernden Auswirkungen, der Klimawandel und seine Folgen, die soziale Ungerechtigkeit, die Bildungskrise, die Politikverdrossenheit, der Fachkräftemangel, die gesellschaftliche Polarisierung, die Angst vor Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Ausgrenzung etc.

Sollte diese Verständigung noch gelingen, liegt die Sprengkraft in den divergierenden Lösungsansätzen. Vielleicht gäbe es auch noch an diesem Scheideweg die Möglichkeit der Verständigung, aber sie scheitert zumeist krachend am mangelnden gegenseitigen Respekt, am ängstlichen Festhalten an eigenen vermeintlichen Gewissheiten, an der Fähigkeit, bescheiden und demütig zuzuhören, der fehlenden Fantasie und dem allesverändernden Mut, die Welt aus der Perspektive des Gegenübers zu betrachten. Die erkannten Probleme werden gegeneinander aufgerechnet und ausgespielt. Diejenigen der andern werden kleingeredet, verächtlich gemacht oder negiert. Auch die Kontrahenten werden mit Schmutz beworfen und würdelos behandelt. Mit jedem weiteren Wort vertiefen sich die Gräben, mit jeder bewusst ausgrenzenden Argumentation und Positionierung, mit jeder Beleidigung oder Beschuldigung scheint es gegenseitig geklärt, dass ICH recht habe und keine tragfähige, gemeinsame Zukunft möglich ist; dass wir verfeindet sind, und zwar nicht nur in Detailfragen, sondern auf breiter Front.

Bei diesen verfestigten feindlichen Positionen quer durch unsere Gesellschaft, quer durch alle politischen Parteien, generationsübergreifend, sogar in geopolitischer Hinsicht, sind individuelle und übergeordnete Fliehkräfte nicht erstaunlich. Die sich radikalisierenden Kreise sind zwar lautstark, aggressiv und werden immer wieder, wie bekannt wird, straffällig, aber dennoch sind sie eine kleine Gruppe, ein Randphänomen. Hingegen bilden die latent Unzufriedenen, die Frustrierten, die Protestierenden, die Sorgenvollen – dazu gehören die allermeisten in unserer Gesellschaft – die Mehrheit. Eine gefährliche, inhomogene Mehrheit, die aber leicht zu entzünden und dann zu bündeln und zu mobilisieren ist.

Da ich zu den sorgenvollen und dementsprechend auch zur Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen gehöre, frage ich mich, was zu tun ist. Mich den radikalen Rändern anzuschließen, die populistisch und heilversprechend tief in unsere gesellschaftliche Mitte vorstoßen, ist ausgeschlossen. Die alternative Gleichgültigkeit, in der ich mich „nur“ um meine Familie, meine kleine private Welt kümmere und die großen, allgegenwärtigen Probleme und Herausforderungen ausblende, ist für mich auch keine Option, da ich viel zu sorgenvoll bin. So sorgenvoll, dass ich mich gezwungen sehe, mich einzumischen, mich zu beteiligen, den Schulterschluss mit den Suchenden, den Ringenden zu suchen und trotz meiner Angst offen und mutig zu sein.

Wenn ich an dieser Stelle nicht aktiv werde, erfülle ich den Tatbestand der „unterlassenen Hilfeleistung“ an unserer Gesellschaft.

Nur durch innere Reflexion und gesellschaftliche Beteiligung kann ich Einfluss nehmen. Mit meiner Lebenskraft, meinen Talenten, meiner Empathie, meiner Toleranz, zuhörend und helfend, und aktuell wieder mit meinem politischen Stimmrecht.
BITTE, GEHT WÄHLEN! Ob in Nordhausen, oder anderswo!"
Daniel Klajner
Intendant der Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH