Als die Amerikaner in Nordhausen einrückten

Eine doppelte Befreiung

Freitag
11.08.2017, 12:26 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Es waren amerikanische Truppen, die dem zweiten Weltkrieg in Nordhausen ein Ende setzten. Wie die dritte Panzerdivision in der Rolandsstadt einrückte, wie man als Kind mit dem Verlust von Verwandten, der Zerstörung und dem Mangel umging, daran erinnert sich nnz-Leser Manfred Neuber...

Am Tage als die Amerikaner in Nordhausen einrückten, waren für uns der Zweite Weltkrieg und das „Dritte Reich“ endlich zu Ende. Kampftruppen der 3. Panzer-Division richteten sich im Bahnhofsviertel ein.

In der nahen Reichsstraße wurden Panzer-Schlepper abgestellt. Solche Ungetüme – mehrachsige Tieflader mit riesigen Reifen – transportierten Sherman-Tanks. Schon nach wenigen Tagen, so schien es uns, bewegten sich die GIs lässig und völlig sorglos. Aus ihren Quartieren in den Hotels am Bahnhofsplatz drang beschwingte Musik – In the Mood...

Während die Luftschutz-Sirenen verstummt waren, aber noch Blindgänger in der zerstörten Altstadt hochgingen, sahen wir im April 1945 am meist blauen Himmel noch tagelang große Formationen silbern glänzender Flugzeuge ostwärts fliegen. Wo mochten sie ihre Bombenlast kurz vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands abwerfen?

Den Alliierten waren zuletzt lohnende Ziele ausgegangen. In der ehemals Freien Reichsstadt schwelten noch Brandherde, zog beißender Rauch über die Trümmer. Erschreckend der Anblick verkohlter Arme, die aus eingestürzten Häusern ragten.

Die ersten Amerikaner, die mit Stahlhelm und vorgehaltener Waffe das Mietshaus des Malermeisters Wackes durchsuchten, fanden die Hausbewohner bei schönem Wetter im Hofe. Wonach sie suchten, was sie fragten, davon hatte ich als damals Zehnjähriger keine Ahnung. In Erinnerung geblieben ist jedoch, dass die ängstliche Spannung der Erwachsenen schnell wich. Aus der Brieftasche des Mitbewohners Hermann Vetter, dessen Familie am Frauenberg ausgebombt worden war, fischte ein GI ein vergilbtes Foto eines Doppeldeckers, das die Besatzer belustigt ansahen.

Vetter hatte als Verwundeter vor Kriegsende die Heimat erreicht. Trotz eines amputierten Beins ging er gleich nach den Luftangriffen am 3. und 4. April daran, das beschädigte Dach des Hauses Reichsstraße 26a auszubessern. Ich half ihm dabei, indem ich Ziegeln durch die Sprossen nach oben reichte. Der völlig aus den Fugen geratene Alltag verdrängte wohl die Gedanken daran, dass eine Oma, die in der Blödaustraße in der Oberstadt gewohnt hatte, durch eine Luftmine im Schutzkeller der Gaststätte Keglerheim ums Leben gekommen war. Marie Schröter ist in einem Massengrab beigesetzt worden.

Um die Ecke, in der Moltkestraße, hatte sich eine andere Tragödie abgespielt. Albert Dietrich, ein Bruder meiner anderen Oma, war nach dem Luftalarm aus dem Keller nach oben gegangen, um noch etwas zu holen. Das Haus erhielt einen Volltreffer. Der Verwandte wurde an einer Seitenwand zum Nachbarhaus eingeklemmt. Alle Versuche, ihn zu retten, blieben vergeblich – oder mussten aufgegeben werden, weil die Wand einzustürzen drohte und die Helfer wegen dieser Gefahr nicht an ihn herankommen konnten.

Für mich als Schüler war der Einzug der Amerikaner eine doppelte Befreiung: Nun musste ich nicht zu den Pimpfen! Die gebrüllten Kommandos, das stumpfsinnige Exerzieren auf dem Kaiserplatz hatte ich mit Schulfreunden von sicherer Warte aus beobachtet – hinter hohem Zaun von Bretterstapeln auf dem Gelände des Sägewerks Rathsfeld. Auch wichen die Albträume von der Mutprobe (Sprung vom Zehn-Meter-Turm) vor der Aufnahme in eine Napola, in die mich Bekannte meiner Eltern, überzeugte Parteigenossen, drängen wollten.

Stattdessen spielten wir Treibball in der Reichsstraße mit alten, ausgefransten Tennis- oder schmerzhaft harten Lederbällen mit derben Nähten, wie sie die Amis beim Baseball warfen. Wir zielten darauf ab, den Ball möglichst hinter dem Führerhaus eines Panzerschleppers unterzubringen. Wer den Ball dann holte, kam meistens mit gefüllten Hosentaschen zurück. In großen Holzkisten bewahrten die GIs eiserne Rationen in Dosen auf. So kamen wir auf diebische Weise zu Keksen und Schokolade, Milch- und Vitaminpulver sowie dem begehrten Kaugummi.

Ganz legal lief ein Tauschgeschäft in unserer Wohnstube ab: meine Hitler- Briefmarken gegen Kaffee, Tee, Zigaretten und anderen amerikanischen Proviant. Meine ältere Schwester erprobte ihr Schulenglisch mit einem Amerikaner, ein deutschstämmiger Familienvater aus Chicago, in großer Runde mit den Eltern, während unsere Mutter zum gemeinsamen Tee aus einem Versteck im Wäscheschrank eine Tüte Friwi-Plätzchen holte. Die hatte der Kiepen-Mann aus Stolberg jede Woche im Treppenhaus verkauft.

Bis die neue Polizeibehörde ein striktes Plünderungsverbot erließ, waren viele Nordhäuser von dem Rausch erfasst, aus zerbombten Lagerhallen und unversehrten Kellerbeständen alles Brauchbare „zu organisieren“. Trampelpfade führten über die Trümmer zu den Kostbarkeiten: Obstkonserven aus der Marmeladenfabrik Friedrich an der Halleschen Straße, große Blechdosen mit Eidotter aus der Brauerei am Taschenberg.

Handgreiflich ging es manchmal in den Lagern der Kautabakfabriken zu. Aus großen Fässern in einem Keller in der Fabrikstraße wurde Sirup gezapft. Eine Frau versuchte sich vorzudrängen. Ein Mann nahm ihr den kleinen Wassereimer aus der Hand, ließ ihn voll laufen und stülpte ihn über ihren Kopf. Das Entsetzen der Umstehenden habe ich noch heute vor Augen.

An der Kasseler Straße, gegenüber dem Sägewerk Schmalz, balgten sich Leute um Tabakballen. Ich schleppte einige Lagen gepresster, goldgelber Blätter nach Hause, musste sie auf Geheiß der Mutter aber wieder abliefern. Wir mussten besonders vorsichtig sein, da am 5. Mai mein Vater im früheren Lager Dora inhaftiert worden war. Weil er als Ingenieur bei der Mabag tätig war, ein Zulieferer für die V-Waffen-Produktion im Kohnstein? Angsterfüllt verbrannte meine Mutter im Küchenherd den Stammbaum der Ahnenforschung, die über mehrere Jahrhunderte zurückreichte.

Bevor die Amerikaner im Juli 1945 nach dem Beschluss von Jalta Thüringen der Roten Armee überließen, wurden die Insassen des Lagers Dora zur demokratischen Re-education nach Westen verlegt. In einem Lager bei Karlsruhe traf mein Vater mit Dr. Herbert Meyer zusammen. Der letzte Oberbürgermeister der Stadt Nordhausen vor dem Zusammenbruch hatte sein Elternhaus in Bad Lauterberg im Harz, damals britische Besatzungszone. Dorthin ließen sich beide entlassen. In Nordhausen hätte meinen Vater vermutlich das ungewisse Schicksal erwartet, wie viele Techniker des Raketenbaus in die Sowjetunion verschleppt zu werden.
Manfred Neuber