Christine Stauch: Abschied von der Dichterstätte Sarah Kirsch

Begleitet von Schmetterlingen

Donnerstag
25.05.2023, 14:18 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Die diesjährigen 25. „Limlingeröder Diskurse“ am 24. und 25. Juni finden zu Ehren des Künstlers Einar Schleef statt. Bevor im Anschluss daran die Tür der Dichterstätte „Sarah Kirsch“ in Limlingerode auf unbestimmte Zeit geschlossen wird, soll hiermit dieser Ort in seiner einmaligen Bedeutung für die Dichterin Sarah Kirsch gewürdigt werden...

„Ich bin 1935 im Pfarrhaus zu Limlingerode geboren worden, in einem südländisch anmutenden Fachwerkbau auf einer Anhöhe am Rand des Waldes.“ So beginnt Sarah Kirsch einen autobiografischen Rückblick, der 2006, unter dem Titel „Kuckuckslichtnelken“, erschienen ist. Darin heißt es weiter: „Es handelte sich um den letzten Amtssitz meines Großvaters vor dem Ruhestand, und es wohnten auch die Eltern in diesem Haus. Der Großvater war vorher lange Zeit in Pogorzela in der Nähe von Breslau als Pfarrer tätig, …“

Die Dichtestätte in Limlingerode von der Hofseite betrachet (Foto: H.Kneffel) Die Dichtestätte in Limlingerode von der Hofseite betrachet (Foto: H.Kneffel)

Man könnte annehmen, sie habe mit diesen Ausführungen die Ferne ihrer familiären Wurzeln betonen wollen, als einen Grund ihrer eigenen Lebensreise, die schon in frühester Kindheit beginnt: von Limlingerode nach Halberstadt, später von dort nach Halle und weiter nach Berlin, bis sie schließlich aus der DDR heraus, kurze Zeit in Westberlin, endgültig in Tielenhemme, in einem alten Schulhaus, ihr zu Hause findet. Die Wahl für dieses historische Haus, in seiner Abgeschiedenheit, im Norden Deutschlands, könnte das Refugium aus ihren frühesten Kindheitserinnerungen wachgerufen haben, das sich ihr im alten Pfarrhaus, im thüringische Limlingerode, bot.

Möglich, dass ebenso die faszinierende Natur, die den Ort Limlingerode umgibt, so nachhaltig gewirkt hat, dass Sarah Kirsch nach ihrer Schulzeit kurzzeitig eine Forstarbeiterlehre beginnt und anschließend Biologie studiert, bevor sie letztlich ihr Leben ganz dem Dichten widmet.

In kürzester Zeit und über Jahrzehnte hinweg, erwirbt sich Sarah Kirsch vor allem mit ihrer Lyrik Anerkennung und Wertschätzung im gesamten deutschsprachigen Raum, wie zahlreiche Ehrungen belegen: darunter, 1976 der Petrarca-Preis (1976), 1984 der Friedrich Hölderlin Preis und schließlich 1996 den renommiertesten Literaturpreis im deutschen Sprachraum, der Georg-Büchner-Preis (1996). Erwähnt sollten auch spätere Preise wie 1997 der Droste-Hülshoff-Preis und 2005 der Jean-Paul-Preis.

Im Jahr 2006 verleiht ihr der damalige Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus den Verdienstorden des Freistaates. Er gilt als höchster Verdienstorden, den der Freistaat vergibt, als „Zeichen der Würdigung hervorragender Verdienste um den Freistaat und seine Bevölkerung.“

Es sind vor allem politische Entscheidungen gewesen, die ihr, nach dem frühen Abschied von Limlingerode, einen späteren Besuch des Geburtsortes unmöglich machen. Dazu zählt ein von der DDR-Regierung im Jahr 1952 getroffener Beschluss, eine 5 km Sperrzone an der gesamten Grenze zur BRD zu errichten, worin der Ort Limlingerode liegt. Spätestens aber der Ausschluss aus der SED und dem Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR, in Folge ihrer Erstunterzeichnung der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahr 1976, als sie im Jahr 1977 mit bewilligten Ausreiseantrag, zusammen mit ihrem kleinen Sohn Moritz (*1969), die DDR für immer verlässt.

Doch mit der friedlichen Revolution, mit dem Fall der Mauer, im Jahr 1989, sind unerwartet wieder alle Möglichkeiten für sie gegeben an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren.

Es ist Mitte der 1990er Jahre die Idee eines literarischen Freundeskreises um die Nordhäuserin Heidelore Kneffel, nicht nur die Dichterin in ihren Geburtsort nach Limlingerode einzuladen, sondern im hiesigen Pfarrhaus, ihrem Geburtshaus, das in dieser Zeit kurz vor dem Zusammenfall steht, eine Dichterstätte entstehen zu lassen, die den Namen „Sarah Kirsch“ tragen soll.

Im Heft 1 der Limlingeröder Reihe, aus dem Jahr 1999, schreibt Heidelore Kneffel „Die Literaturfreunde gründeten im Bunde mit der Gemeinde Hohenstein, Ortsteil Limlingerode, am 25. März 1998, den Förderverein Dichterstätte Sarah Kirsch. … Das rekonstruierte Geburtshaus (Pfarre) in Limlingerode wird Dichterwohnung, Bibliothek, Forschungs- und Begegnungsstätte, ein Ort lebendiger Auseinandersetzung mit ihrer Dichtung und der anderer. … Die Begegnung soll national und international offen sein.“

In diesem Heft erwähnt sie weiter „Der ‚Grüne Junipfad‘ ist innerhalb der Dichterstätte sowohl poetischer als auch tatsächlicher Ort. An der Wegekreuzung, symbolhaft für so manchen und so manches, wird das literarische Wort erklingen, bevor man dann dorthin kommt, wo Grenze war.“ „ein Weg … aus Limlingerode hinaus, … wo der Pfad, immer üppiger mit Sträuchern und Bäumen bewachsen, zum dichten Weg wird.“ Bei einem Spaziergang, im „grünen Juni des Jahres 1997 ist „ein Dichterweg geboren“, als Sarah Kirsch zu einem ersten Besuch in Limlingerode und Nordhausen weilt.

Endlich, im Jahr 2002, können die Veranstaltungen des Fördervereins, deren Vorsitz Heidelore Kneffel über viele Jahre innehat, im vollständig restaurierten Pfarrhaus ausgetragen werden, das fortan als Dichterstätte weiter leben sollte.

Unzählig die Veranstaltungen, die Monat für Monat in diesem Hause stattgefunden haben, die Namen der Dichter*innen, die ihre Lyrik im „Salon Musenbundt“ vorgetragen haben, Künster*innen, die ihre Werke in der Ausstellungsreihe „hausArt“ dem Publikum präsentieren, die Musik, die in den Räumen erklingt, die zahlreichen Publikationen, bis hin zu einer Bibliothek, die mit den Jahren eine umfangreiche Werksammlung verzeichnet. Es sei zudem an die vielen Gäste erinnert, die die Dichterherberge in diesen Jahren erlebt und wertgeschätzt haben – die von diesen Räumen und der Umgebung des Ortes einfach überwältigt sind. Die Eintragungen im Gästebuch sind ein Zeugnis berührender Momente und Eindrücke dieser Dichterstättenjahre in diesem Haus.

Sarah Kirsch stirbt im Jahr 2013, nach kurzer schwerer Krankheit in Heide/Holstein.

10 Jahre nach ihrem Tod, Anfang dieses Jahres, wird der Förderverein von der Gemeindeverwaltung von Limlingerode, Hohenstein, in Kenntnis gesetzt, dass es für sie künftig nicht mehr möglich wäre, die weitere Förderung für die Dichterstätte aufzubringen, in deren Folge das Haus ab dem Monat Juli wieder in Kirchgemeindebesitz übergehen müsse. Dem über Jahre geleisteten ehrenamtlichen Engagement des Fördervereins ist damit die Grundlage genommen, die Dichterstätte im Geburtshaus von Sarah Kirsch, darüber hinaus mit kulturellen Veranstaltungen für Gäste aus nah und fern beleben zu können.

Die Gemeinde Limlingerode, der Landkreis Nordhausen, ja, letztlich das Land Thüringen vergeben in Konsequenz dieser Entscheidung eine einmalige Chance, ein über Jahre geschätztes Kleinod für Künstler*innen und Gäste im ländlichen Raum zu erhalten. Vor allem aber jene, den Geburtsort von Sarah Kirsch, einer Dichterin, die zu den „bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen“ gehört, zumal auf dem Boden der ehemaligen DDR, als dauerhaften und lebendigen Erinnerungsort zu bewahren, der mit seiner wechselvollen Geschichte nicht nur für die Dichterin nachhaltige Spuren hinterlassen hat.

In der erwähnten Autobiografie erwähnt Sarah Kirsch: „…Der Großvater war ein moderner Pastor. Er führte in dem Ort seines Wirkens Nähmaschinen ein, dass alleinstehende Frauen etwas verdienen konnten. … die Grenze … Meine Verwandten, die in Limlingerode einen Bauernhof hatten, sind ebenfalls abgehaun. … Sie sollten kaputtgemacht werden, weil sie der LPG noch nicht beigetreten waren. …“

Mit den diesjährigen „Limlingeröder Diskursen“ lässt der Förderverein einen würdigen Abschied aus der Dichterstätte erwarten.

Einar Schleef (*1944 / † 2001), ist ein Künstler, der in Sangerhausen, im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt, geboren ist und einst, ebenso wie Sarah Kirsch, im Jahr 1976 die DDR verlassen hat. Dessen künstlerisches Gesamtwerk, aus seinen Betätigungsfeldern als Theater-Regisseur, Schriftsteller, Bühnenbildner, Maler, Fotograf, Grafiker und Schauspieler bietet, „einen eigenständigen Beitrag zur gesamtdeutschen Kunst und Kultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“.

Im Gegensatz zur genannten Entscheidung bezüglich der Dichterstätte „Sarah Kirsch“ in Limlingerode hat sich ihm zu gedenken und in Würdigung seiner künstlerischen Arbeit im Jahr 2002 der Einar-Schleef-Arbeitskreis in Sangerhausen gegründet, mit dessen Unterstützung im dortigen Spengler-Museum im Jahr 2003 ein Einar-Schleef-Zentrum einstanden ist. Eine Besichtigung dieses Ortes ist Programmteil der Diskurse.

In „Kuckuckslichtnelken“ schreibt Sarah Kirsch: „Mein Vater … betrieb in Limlingerode eine Reparaturwerkstatt für Uhren und elektrische Geräte. … Als seine Mutter und etwas später auch sein Vater gestorben waren, zogen meine Eltern mit mir nach Halberstadt. …“

Nein, einfach wird der Weggang aus dem alten Pfarrhaus, aus der Dichterstätte „Sarah Kirsch“, in diesem Jahr nicht werden.

In Gedanken diesen Ort, könnte man meinen, dass das vollständige Gedicht der Titelzeile dem poetischen Blick der Dichterin Sarah Kirsch über die Wiesen von Limlingerode entsprungen ist:

Albumblatt
Die schwarzweißen wiederkäuenden Kühe
Liegen zärtliche Klumpen auf
Erzengelwurzelwiesen die Katze
Gleicher Farben duckt sich am Zaun
Drauf Elstern springen und schrein
Unter tiefhängendem feuchten Gewölk
Geht die zugeknöpfte Bäuerin im Joch
Erfüllbarer Pflichten schnellen Schritts
Lackierte Kohlköpfe schneiden
Begleitet von Schmetterlingen

Gedicht “Albumblatt“, in „Musik auf dem Wasser“, Verlag: Reclam, Leipzig, 1989
Christine Stauch