Spurensuche auf dem jüdischen Friedhof

Ein Jahrhundert Blütezeit

Dienstag
14.09.2021, 12:00 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Versteckt und von den Nordhäusern fast vergessen liegt der jüdische Friedhof still im Herzen der Stadt. Könnten die steinernen Grabmäler Geschichten erzählen, würden sie nicht nur über das Leben der Nordhäuser Juden berichten, sondern auch über die Geschichte der Stadt und des ganzen Landes. Auch in Bleicherode und Ellrich gibt es noch solche Spuren. Dr. Marie-Luis Zahradnik ist ihnen nachgegangen…

Still und gut verborgen liegt der jüdische Friedhof heute mitten in Nordhausen (Foto: agl) Still und gut verborgen liegt der jüdische Friedhof heute mitten in Nordhausen (Foto: agl)


1807, Zeitenwende. Napoleon ist über Europa hinweggefegt, das Heilige Römische Reich ist nicht mehr und mit ihm fallen im ganzen Land überkommene Traditionen. In Nordhausen dürfen sich nach fast 300 Jahren Exil wieder Juden ansiedeln. Und sie kommen, die meisten aus dem Umland, aus Bleicherode, Ellrich, Sülzhayn und Werna. Die Gemeinde wächst, prosperiert geradezu. Ende der 1820er Jahre wird das erste Stück Flur des jüdischen Friedhofs erworben, 1845 erbaut man eine eigene Synagoge.

Vom Tempel ist nicht mehr als ein paar Fotografien und ein Gedenkstein geblieben, doch der Friedhof hat trotz Nazi-Diktatur, Holocaust und Krieg überdauert. Das Gräberfeld wurde wohl schlicht ignoriert, vermutet Dr. Marie-Luis Zahradnik. Das Areal war damals wie heute klein, unscheinbar und anders als heute am Rande der Stadt, nicht mittendrin. So unsichtbar, das es überdauern konnte. Für die Historikerin ein Glücksfall, denn die Grabsteine halten die Geschichte der Nordhäuser Juden bis heute fest.

„Das Leben schreibt den Tod“, sagt Zahradnik, allein das Lesen ist nicht ganz einfach. Im ältesten Teil des Friedhofs dominieren noch Hebräisch und Aramäisch, stark verwitterte Texte die auch Experten nur schwer entziffern können. Einen jüdischen Grabstein zu interpretieren sei etwas anderes als die Tora oder Literatur zu lesen, erklärt die Historikerin. Je jünger die Grabsteine, desto einfacher wird es. Denn das distinkt jüdische schwindet und weicht mehr und mehr deutschen Inschriften. Anhand der Entwicklung der Grabkultur können Linien zur Geschichte der Gemeinde, der Stadt und letztlich des ganzen Landes, ja zu einer ganzen Epoche gezogen werden.

Dr. Marie-Luis Zahradnik kümmert sich um den Friedhof und seine steinernen Zeitzeugen (Foto: agl) Dr. Marie-Luis Zahradnik kümmert sich um den Friedhof und seine steinernen Zeitzeugen (Foto: agl)


„Die Nordhäuser Gemeinde war nach 300 Jahren, in denen sie in der Stadt nicht existieren konnte, an keine Tradition gebunden. Man hat sich Rabbiner gewählt, die reformorientiert waren und die ihre Gemeinden öffnen wollten.“, erzählt Zahradnik beim Rundgang zwischen den alten Grabsteinen. Gepredigt wird auf Deutsch, so sehen es die napoleonischen Gesetze vor. Während man die Praxis in Nordhausen auch nach dem Fall der französischen Ordnung beibehält, kehrt man in Ellrich sofort zur althergebrachten Tradition und zum hebräischen zurück. In der Nachbargemeinde wie auch in Bleicherode gab es anders als in der Reichsstadt kein Zuzugsverbot für Juden. Die Tradition hat hier fortgelebt. Doch im 19. Jahrhundert schwinden die Gemeinden der beiden kleineren Städte, während das jüdische Leben in der Rolandsstadt einem Jahrhundert der Blüte entgegen geht. Nordhausen ist für viele ein Neuanfang, ein Möglichkeit zum Aufbruch in eine andere Zeit, wie sie überall im Land spürbar ist. Der Liberalismus regt sich, aber auch der Nationalismus. Auch der Zugang zur Bildung spielt eine Rolle, seit 1808 dürfen Juden auch deutsche Schulen besuchen und an dieser Praxis hält man in Preußen auch nach dem Krieg fest.

Die Forschung spricht von zunehmender „Assimiliation“. Liberale Ideen, eine Abgrenzung zur Orthodoxie und die Identität als Staatsbürger rücken in den Vordergrund. Die Bar Mitzwa können in Nordhausen auch Mädchen erhalten, der Begriff selbst weicht im Laufe des 19. Jahrhunderts der „Konfirmation“, was für einige Irritation auf Seiten der evangelischen Kirche führt. Der Bildungsgrad ist hoch, viele Gemeindemitglieder vergleichsweise wohlhabend, ihr Blick richtet sich in die Moderne. Zur freireligiösen Gemeinde Eduard Baltzers hält man enge Kontakte, man nimmt an predigten Teil und geht mit der „Einsegnung“ ähnliche Wege wie Baltzer mit der Jugendweihe.

Man lebt gemeinsam, friedlich Seite an Seite. Als auch jüdische Nordhäuser in den Schützengräben des ersten Weltkrieges sterben, sorgt die Gemeinde für ein Denkmal. Zur Einsegnung kommen Gäste aus allen Bereichen der Nordhäuser Gesellschaft, nicht nur Juden. „Das 19. Jahrhundert war vom friedlichen Miteinander geprägt und ich denke es lohnt sich auch für unsere Gesellschaft darauf zu schauen, wie man Konflikte gelöst hat“, meint Zahradnik. Gleichzeitig steht aber auch die Frage im Raum, wie es dazu kommen konnte dass man aus eben jenen Nachbarn, Bekannten, Kollegen und Freunden in wenigen Jahren "Untermenschen" machen konnte, die es nicht Wert waren am Leben gelassen zu werden.

Mit Unterstützung der Lesser-Stiftung und des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts hat sich die Historikerin daran gemacht, die Zeugen der Vergangenheit für die Zukunft digital festzuhalten, sowohl zwei- wie auch dreidimensional. 80 Grabsteine aus der Region sind für die virtuelle Bewahrung vorgesehen. Zum Einsatz kommt dabei auch moderne Technik von der Drohne bis zum „Matterport“. „Die Geschichte dient der Technik da auch als Experimentierfeld“, sagt die Forscherin. Die Daten aus Nordhausen und Umgebung sollen in den Fundus des Steinheim-Instituts einfließen, das bereits um die 11.000 Datensätze aus ganz Deutschland umfasst.

Für die Forschung sind nicht nur Texte sondern auch Gestaltung und Symbolik von Interesse. Aus den einzelnen Puzzleteile können die Historiker ein umfassendes Bild zur Geschichte des Judentums im 19. Jahrhundert zusammensetzen. Der Ansatz hat überregional Beachtung gefunden, doch für Marie-Luis Zahradnik gibt es neben den Daten auch ganz menschliche Seiten der Forschungsarbeit. Der Friedhof wird noch gepflegt, dafür sorgen die Nachkommen der alten Gemeinde, auch wenn keiner von ihnen noch in Nordhausen lebt.

So kommt Zahradnik auch in Kontakt mit „Charlie“ aus den USA. Die Eltern des heute 70jährigen waren aus Deutschland geflohen, hatten sich in den Vereinigten Staaten ein neues Leben aufgebaut und eine eigene Firma gegründet. Warum die „Roland“ hieß obwohl niemand in der Familie Ballin diesen Namen trug wunderte den jungen Charlie. Die Frage konnte er erst nach dem Tod der Eltern beantworten: in einer Kiste mit alten Fotografien und Postkarten fand sich auch ein Bild von Vater und Onkel, wie sie vor dem Nordhäuser Roland posieren. Über den Krieg und die Verfolgung hatte man bei den Ballins den Mantel des Schweigens gehüllt. Aber vergessen ist die alte Heimat nicht. Zahradnik kommt über ihre Forschung mit Charlie in Kontakt, schreibt viele E-Mails, allesamt auf Englisch, wie die Historikerin erzählt. „Schließlich telefonieren wir das erste mal und wie werde ich begrüßt? Mit einem „Wieän?“

Es sind solche kleinen Episoden, welche den Wandel des Zeitenlaufes auf ein für den Menschen greifbares Niveau herunterbrechen können, „pars pro toto“, wie die Historiker sagen - der Teil steht für das Ganze. Wer mehr über das Geschick der jüdischen Gemeinde in Nordhausen erfahren will, der hat dazu in den kommenden Tagen und Wochen reichlich Gelegenheit. Am Freitag organisiert die Stadtbibliothek einen Thementag zu 900 Jahren jüdischen Lebens in Thüringen. Eine Übersicht zum Programm gibt es hier . Wer sich für die Geschichte und die Geschichten der jüdischen Friedhöfe in Nordhausen, Ellrich und Bleicherode interessiert, dem sei ein Besuch der Flohburg ans Herz gelegt, wo einige der Forschungsergebnisse präsentiert werden. Im November wird man hier noch einmal nachlegen und ein Schlaglicht auf die Gemeinde in ihrer Blüte während des 19. Jahrhunderts werfen. Und wer Frau Dr. Zahradnik direkt lauschen möchte, kann das am Freitag im Zuge des Thementages tun. Die Historikerin führt dann auf den Spuren der alten jüdischen Gemeinde durch die Stadt.
Angelo Glashagel